Von: Timea Hiller
Vorwort: Kennst du das? Du denkst an etwas. Dann machst du etwas anderes. Plötzlich denkst du wieder an die Sache von vorhin. Du fokussierst dich darauf.
Der LÄUFER. Sandra las dieses Wort. Der Moment war sekundenschnell, zu kurz um einen Kontext zu erfassen. Das Wort sprang ihr ins Auge, als sie in die S-Bahn stieg und die offene Tür noch den Blick darauf freigab. Fast vergaß sie diese unbedeutende Sache.
Ein langer Seminartag lag hinter ihr. Ein Tag, an dem sie über viele Zeichen sprachen. Das war anstrengend. Die junge Frau freute sich darauf, bald zu Hause zu sein. Außerdem plagte sie eine Erkältung.
Mit dem typischen Geräusch schloss sich die Tür, die Bahn fuhr los und das Wort war weg. An anderen Tagen hätte sie dieses Wort nicht weiter beschäftigt. Warum fiel es ihr heute, ein paar Stationen später, wieder ein? Ein Sportler stieg ein. Er trug dieses Outfit, ein dunkelblaues Oberteil mit Reißverschluss am Hals, eine Sporthose, Laufschuhe. Aha, dachte Sandra. Ja, SO ein Läufer könnte gemeint gewesen sein. Könnte! Die Bahn fuhr an einem Park vorbei. Es gab dort die Möglichkeit, Bodenschach zu spielen, Sandra wusste das. SO einer könnte es auch sein. Der Läufer, eine Leichtfigur, die diagonal auf dem Schachbrett wandert. Sandras Blick fiel jetzt auf das Pärchen, das ihr gegenüber saß. Die beiden hielten ein längliches Paket fest, das quer über ihren Schößen lag. Sandra konnte das Etikett darauf gut sehen. Erstaunt las sie, was da stand. Sie drückte ganz fest die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Unfassbar. Vorsichtig öffnete sie ihre blauen Augen wieder. Nichts hatte sich verändert. Da stand es. „Hautfreundlich mit robustem Floor aus Polyamid.“ Sie wusste es sofort. Einer, den man auf den Fußboden legte. Noch ein Läufer. Vielleicht war dieser gemeint?
Es war fantastisch und zugleich ärgerlich! Denn das Wort war da und repräsentierte sich selbst. Je mehr das passierte, umso mehr beschäftigte es sie. Es breitete sich wie ein Virus in ihrem Kopf aus.
An der nächsten Station musste Sandra aussteigen. Dieser dumme Gedanke, dass sie das Rätsel von heute nicht mehr oder vielleicht nie mehr lösen konnte, wurmte sie heftig. Sie WÜNSCHTE sich, zu wissen, welcher Läufer gemeint war.
Zuhause angekommen zog sie ihre Jacke vor dem großen Spiegel aus und warf einen Blick auf ihr Spiegelbild. Wie sah sie heute aus? Sie dreht sich zur Seite und betrachtete den Schnitt ihrer Hose. Die Verkäuferin hatte behauptet, dass der SCHLAG am Bein unten wirklich feine Akzente setzte. Doch stimmte das? War das Teil vielleicht unmodern? Sandra konzentrierte sich, hob den Kopf und senkte ihn, um die Hose noch genauer zu mustern. Sie beobachtete ihre Hose, als ob diese gleich etwas anstellen könnte. Beinahe war das so. Die Hose hatte sich wie die Schlinge eines Knotens um ihre Hüften gelegt. Sofort durchzuckte sie ein Gedanke. Seemänner benutzen das Wort Schlag! Es war reine Magie. Etwas in ihr zwang sie, den Stoff ihrer Hose mit animalischem Blick anzustieren. Er erinnerte sie an Segeltuch. Segler benutzen das Wort Schlag ebenfalls!
Sie fühlte sich scheußlich und fasste sich an die Stirn, um herauszufinden, ob sie vielleicht Fieber hätte. Es war eigenartig, was sie sich heute zusammenreimte.
Wenn bloß der ZUG gestern nicht gewesen wäre. Sie wiederholte den Halbsatz vor sich hinmurmelnd. Wenn der Zug nicht gewesen wäre, dann würde sie hier nicht so stehen, mit schwachen Knien und schmerzenden Gliedern! Dabei hätte sie nur das Fenster schließen müssen. Ihre Sitznachbarin hatte das ausdrücklich angeboten. Doch zu dieser Zeit waren sie fast auf dem Hauptbahnhof angekommen. Es war zu spät. Sandra schniefte und nießte da schon hemmungslos. Beim nächsten Mal würde sie auf den Flieger umsteigen. Sie würde darauf verzichten, den Zug zu nehmen, um in die Schweiz und den gleichnamigen Kanton zu gelangen.
Es hämmerte in ihrem Kopf. Sandra lief in die Küche, um sich abzulenken. Sie lauschte dem leichten „plopp“, den die Kühlschranktür beim Öffnen verlauten ließ und entnahm dem Gemüsefach eine frische Ingwerwurzel. Als sie die lederartige Schale entfernte, versuchte Sandra, den Geruch tief in ihre Nase hinein zu ziehen. Doch vergebens. Egal wie sehr sie schnüffelte, mit ihrer Erkältung roch sie gar nichts. Anstelle eines Wasserkochers benutzte sie einen Teekessel und stellte ihn auf den Herd. Kurz darauf setzte sie sich mit dem heißen Tee an den Küchentisch. Kaum hatte Sandra Platz genommen, fiel ihr etwas auf.
Ihre Küche befand sich im westlichen FLÜGEL des Altbaus. Von draußen ertönte Musik. Die junge Frau wusste genau, woher die Klänge kamen. Eine Nachbarin schlug mit ihren Händen die Tasten des grandiosen Instruments an. Fraglos handelte es sich um einen Flügel. Sandra hatte ihr schon oft beim Spielen zugesehen. Wegen der Musik fing nun ihr Wellensittich Hansi an zu zetern und stieß heftig mit einem Flügel gegen die Gitterstäbe des Käfigs.
Es war, als wollte ihr Kopf zerspringen. Dabei war es auch fast egal, ob das an dem hässlichen Schnupfen lag oder an ihren Gedanken.
Nachdem er seinen Tanz vollführt hatte, hüpfte der Vogel in seinem Käfig über eine kleine BRÜCKE zu seinem Wasserbad. Ein lustiges Schauspiel, das sie an anderen Tagen erfreut hätte. Doch Sandra musste an die Nachbarin denken. Sie hatte diese noch vor ein paar Tagen in ihrer Wohnung besucht. Hertha war eine nette ältere Dame und betonte gerne, dass sie mit Fußball nichts am Hut hätte. Denn schließlich würde der Berliner das sofort vermuten. Hertha hatte ihr eine Melodie vorgespielt und dazu gesungen. Sie hob ihren Kopf und öffnete dabei ihren Mund. Der Mund wurde unbarmherzig größer. Sandra guckte geradewegs hinein. Wie in einer Zahnarztpraxis, wenn sie ihr den Spiegel vorhielten. Zwischen Herthas Zähnen blitzte viel Metall und eine Brücke überdeckte ihre Zahnlücken.
Trotz ihres Alters war die Nachbarin verblüffend sportlich. „Sandra, glaube es mir“, hatte Hertha stolz gesagt, „ich schaffe diese Übung.“ Theatralisch trat sie einen Schritt zurück. Geradezu atemberaubend athletisch beugte Hertha ihren schlanken Rumpf so weit rückwärts, bis sie tatsächlich mit den Händen den Boden berührte. Wow, was für eine Brücke, dachte Sandra und bewunderte Herthas Sportlichkeit!
Sandra reichte es für heute. Gedankenverloren schluckte sie erschöpft den restlichen Tee hinunter und stellte die Tasse in den Geschirrspüler. Vom Herd blinkte ihr der Teekessel entgegen. Der Teekessel – ein Ratespiel, Müttern und Kindern wohlbekannt.
Hundemüde schlich sie zu ihrem Bett. Sie wollte nur noch schlafen. Wenn sich die Gedanken doch einfach beiseite schieben ließen!
Was brachte Sandra auf diese Gedanken?